Der Fachbegriff Entthronung des Erstgeborenen hat mich irgendwie immer mißtrauisch gemacht. Das erste Kind als kleiner König, der von seinem Prinzenthron gestoßen wird? Aber nun ja, es ist nur ein Begriff – noch dazu einer, der aus einer anderen Zeit stammt.
Als ich das erste Mal davon las, was damit gemeint ist, nämlich das, was Erstgeborene erleben, wenn ein Geschwisterkind geboren wird, war ich mir sehr unsicher, wie das werden würde für unseren „Großen“.
Schließlich war er mit seinen 16 Monaten selbst noch ein Baby, als die Zwillinge auf die Welt kamen.
Wir als Eltern waren fest davon entschlossen, dass sich unser Kind nicht „entthront“ fühlen müsste. Wir wollten ihm auch weiterhin all die Liebe und Aufmerksamkeit geben, die er braucht.
Als ich zur zweiten Entbindung im Krankenhaus war, durfte unser Junge eine Woche bei Oma und Opa bleiben. Das war ein Glücksfall! Er freute sich sehr.
Wer liegt denn da in Mamas Armen?
Als er uns mit den Großeltern und Papa im Krankenhaus besuchen kam, blickte er ein wenig verständnislos auf die Mama mit dem für ihn erstmal fremden Baby im Arm.
In diesem Moment wurde mir bewusst, wie entscheidend die Haltung der Eltern dafür ist, wie das erste Kind diesen unweigerlichen Prozess der Entthronung durchlebt.
Dass es ihn durchleben muss, wurde mir hier zum ersten Mal ganz deutlich. Außerdem hatte ich – auch wenn es total unbegründet war – ein schlechtes Gewissen, weil ich in dieser neuen Phase unseres Familienlebens natürlich viel weniger Zeit als bisher für meinen Erstgeborenen haben würde.
Als einen viel harmonischeren Start in diese neue Familienkonstellation hätte ich es auch empfunden, wenn eine Hausgeburt oder eine Geburt im Geburtshaus möglich gewesen wäre.
Durch meine lange Abwesenheit bekam ich umso mehr das Gefühl, mich nicht genug um den Großen kümmern zu können. Bei einer Hausgeburt oder einer ambulanten Geburt kann die ganze Familie das neue Mitglied zusammen direkt bzw. daheim begrüßen und die ersten Tage zusammen genießen.
Nicht immer schenkt einem das Leben jedoch optimale Bedingungen, dies auch so zu gestalten. Da muss man wohl manchmal einfach das Beste draus machen, oder was meint ihr?
Entthronung – Bindung zu anderen Menschen
Vater und Großeltern konnten dieses „Ausfallen“ der Mutter, die ja nun einen Großteil der Zeit mit Stillen, Babys halten, tragen und wickeln beschäftigt war, abfangen.
Da unser Kind schon vorher eine gute Bindung zu diesen Bezugspersonen aufgebaut hatte, wurde sein Leben nun zwar anders, aber nicht etwa schlechter, sondern eher vielfältiger.
Ich bemühte mich Zeit mit dem Ersten alleine zu verbringen. Das war Zeit nur für uns, in der wir zusammen spielten, kochten, malten – echte Premium Quality sozusagen. Oft war ich aber auch einfach zu müde und froh, wenn die Oma, der Papa oder das Kindermädchen sich um den aufgeweckten Einjährigen kümmerten.
Sich Hilfe holen, um die Entthronung zu mildern
Diese für alle sehr intensive Zeit haben wir gut überstanden, weil wir uns Hilfe geholt haben. Es ist absolut nicht schlimm, Hilfe zu brauchen. Und wir können uns glücklich schätzen, wenn uns vertrauensvolle Menschen dafür zur Verfügung stehen. Es ist wichtig sich dies einzugestehen!
Als junge Familie darf man Hilfe brauchen. Gerade, wenn die Großeltern weiter weg wohnen und nicht so einsetzbar sind, ist es sehr wichtig, zu überlegen wie der Alltag in der ersten Zeit nach einem Familienzuwachs organisiert werden kann.
Das ist meiner Meinung nach ganz wichtig, damit der Erstgeborene sanft und selbstbestimmt vom Prinzenthron steigen bzw. die Entthronung ohne Schwächung durchleben kann. Er soll nicht das Gefühl bekommen, das andere seinen Platz einnehmen.
Aus diesem Grund haben wir damals die Entscheidung getroffen, ihn vor der Geburt der Zwillinge nicht mehr in der Kita anzumelden. Für uns war in dieser Situation eine Art „Kindermädchen“ die Lösung, die in den ersten Monaten zu uns kam, um uns zu unterstützen.
Die Kita kann natürlich eine sinnvolle Hilfe sein – gerade wenn eine junge Familie nicht auf Verwandte zählen kann. Dann sollte die Eingewöhnung in die Kita idealerweise bereits stattfinden, lange bevor das Geschwisterkind zur Welt kommt.
Fühlt sich ein Kind in seiner Kita, seinem Kindergarten oder in seiner Schule wohl, können die Erzieher und Lehrerinnen ebenfalls wichtige Bezugspersonen in dieser Zeit sein. Das ist sehr viel Wert.
Gerade die Erstgeborenen – die zunächst Einzelkinder sind – freuen sich in der Regel sehr, endlich mehr Zeit mit gleichaltrigen Spielkameraden zu verbringen.
Entthronung – was passiert danach?
Ganz wichtig ist es, auf die wechselnden Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Das bewusstere Wahrnehmen des Geschwisterkindes als selbständig handelndes Individuum setzt meiner Erfahrung nach erst nach einiger Zeit ein.
Es kommt eigentlich erst zu Konflikten, wenn diese etwas älter sind. Zunächst schlafen Babys viel und erweitern erst mit dem Krabbeln ihren Aktionsradius ein wenig mehr.
Erst wenn das Kleinkind zu den Spielsachen des Älteren gelangen kann, also direkt in dessen „Herrschaftsbereich“ eingreift, kommt es zu einer direkten Interaktion zwischen den beiden.
Jüngere Geschwister bewundern die älteren in der Regel und schauen sich viel von ihnen ab. Sie wollen mitmachen bei den Großen und das geht oft schief.
Entthronung – Eingriffe in das Revier der Größeren
Ohne böse Absicht machen sie Bauwerke kaputt und stören unwissentlich Rituale und Spiele. Jetzt greifen die Jüngeren aktiv in das Revier des oder der Erstgeborenen ein. Jetzt zeigt sich, wie diese(r) darauf reagiert.
Hier braucht es oft einen Erwachsenen, der Möglichkeiten aufzeigt, wie beide zufrieden spielen können. Wichtig dabei ist, dass der Größere keineswegs immer derjenige ist, der nachgeben muss.
Die Eltern müssen hier Wege finden, die auch für Letzteren akzeptabel sind. Außerdem soll ab und zu Zeit sein, mit dem „Großen“ etwas allein zu unternehmen. In den ersten Monaten bietet sich die Zeit des Mittagsschlafes des kleinen Kindes wunderbar dafür an.
Mamatag für den Erstgeborenen
Möglich ist es auch, dass das ältere Kind abends länger aufbleiben darf und hier Zeit mit den Eltern alleine hat. Ich finde auch unsere „Mama-Tage“ sehr schön, die wir zwar selten, aber doch einigermaßen regelmäßig mit allen Kindern abwechselnd einhalten.
Bei unserem Erstgeborenen habe ich nach den sehr anstrengenden ersten drei Jahren, in denen er unweigerlich kürzer treten musste, weil ich nach der ersten Zeit mit Hilfe von außen viel allein mit den Kindern war, kam irgendwann im Kindergartenalter ein starkes „Mama-Bedürfnis“ auf.
Plötzlich wollte er sehr viel kuscheln und wollte mich abends gar nicht gehen lassen, bis er schließlich eingeschlafen war. Ich ließ ihn gewähren und blieb immer bei ihm bis er in den Schlaf fand.
Kuschelzeit mit Mama allein
Zuerst brachte ich die Zwillinge ins Bett und dann kuschelte ich ganz lange und ausgiebig mit ihm. Ich hatte das Gefühl, er hole sich jetzt seine „Mama-Zeit“ zurück. Auch ich habe das als sehr schön empfunden.
Ich halte es für enorm wichtig, den Kindern genau das zu geben, was sie gerade brauchen. Wenn ein Kind plötzlich wieder Baby sein will, seitdem es Nachwuchs in der Familie gegeben hat, dann sollte ihm dieser Wunsch erfüllt werden:
mit Babymassagen, viel Kuscheln und Körperkontakt, vielleicht füttern oder Babysprache. Auch wenn es einem Erwachsenen komisch vorkommen mag, wenn eine Vierjährige plötzlich wieder Windeln tragen will, vielleicht sogar ins Bett macht?
Mit viel Verständnis lösen sich viele Probleme bei der Entthronung
Jedes Kind hat andere Bedürfnisse und auch diese Phase ist irgendwann zu Ende. Fühlt Euch in Eure Kinder hinein und gebt ihnen das, worum sie Euch bitten. Mit viel Verständnis lassen sich viele Probleme lösen!
Meiner Erfahrung nach, entsteht durch eine solche Haltung von Geburt des zweiten Kindes, auch kaum Aggression oder Eifersucht. Natürlich gibt es diese Gefühle zu einem gewissen Grad immer wieder unter Kindern.
Sehr starke Reaktionen könnten darauf hinweisen, dass ein Kind auf sich aufmerksam machen will. Diese Aufmerksamkeit sollte ihm zuteil werden.
Nicht in negativer Form, indem viel geschimpft und bestraft wird, sondern ganz anders: Der Große sollte als Großer (von vornherein) gewisse Privilegien haben.
Wie oben beschrieben z.B. Zeit mit den Eltern alleine und vielleicht auch eine eigene Rolle als „Große(r)“ mit Pflichten haben, aber auch Vorrechten wie längeres Aufbleiben oder später Taschengeld.
Toll ist es auch, wenn der/die Ältere mit der Mama gemeinsam das Baby wickelt, badet oder im Kinderwagen spazieren fährt. Wenn es von Anfang an in diese ganzen neuen Aufgaben der Eltern mit einbezogen wird, entwickelt es zum einen eine stärkere Beziehung zum Jüngeren und freundet sich zum anderen mit seiner neuen großen Bruder-/Schwesterrolle an.
Eure Verena Wagner (Babytalk – Autorin)
Beitragsfoto: STUDIO GRAND OUES / shutterstock Pinterest: katrinaelena & karlamarie6 / Getty Images Pro
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